Die Begründung des Bennohauses, warum unsere Veranstaltung mit Wieland Hoban zum Thema „Was ist Antisemitismus?“ abgesagt wurde, und die Berichterstattung der Westfälischen Nachrichten dazu, geben uns das Gefühl, in einer Dystopie zu leben. Es ist aber die Realität.

Trotz massiver Kritik werden Antisemitismus-Definitionen wie der 3D-Test oder die IHRA-Arbeitsdefinition anerkannt und angewandt, als wären sie eine unumstößliche Wahrheit. Der 3D-Test (Delegitimierung, Dämonisierung, Doppelstandards) wurde vom israelischen Politiker Nathan Scharanski unter der Regierung des mehrfachen Kriegsverbrechers Ariel Scharon entwickelt, ohne jegliche Expertise und aus einem politischen Motiv heraus. Die IHRA-Definition zu Antisemitismus ist eine Arbeitsdefinition, die nicht zur politischen oder juristischen Verwendung gedacht war. Sie wird von Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt abgelehnt, darunter den größten israelischen Menschenrechtsorganisationen [1] und führenden Wissenschaftler*innen auf den Gebieten der Antisemitismusforschung, Holocaustforschung und Jüdischen Studien [2]. Selbst der Autor dieser Definition, Kenneth Stern, beklagte sich schon vor Jahren über den Missbrauch der Arbeitsdefinition für politische Zwecke und politische Zensur. Vor allem linke Jüdinnen und Juden wurden auf Basis der Arbeitsdefinition angegriffen und zensiert [3]. Er warnte Institutionen davor, die Definition zu implementieren, da sie „als schonungsloses Instrument benutzt wird, um jede beliebige Person als Antisemit*in zu labeln“ [4].

Diese Definitionen werden von Staaten wie Deutschland oder den USA seit Jahren dazu benutzt, Kritiker*innen des israelischen Staates und seiner Politik als antisemitisch zu brandmarken und mundtot zu machen. So wurden auch wir sowie die Jüdische Stimme auf Grundlage solcher umstrittener Definitionen als antisemitisch gelabelt. Wer nun eine Veranstaltung machen möchte zu eben dieser Frage, „Was ist Antisemitismus?“, in der auch kritische Perspektiven auf diese umstrittenen Definitionen ermöglicht werden, wird unter Berufung auf ebendiese Definitionen als antisemitisch gelabelt und ausgeschlossen. Es ist eine perfide, in sich geschlossene Strategie, um das öffentliche Sprechen über Antisemitismus in Deutschland unmöglich zu machen. Wer nicht zum herrschenden Kreis derer gehört, die besagte Definitionen akzeptieren und sich unerschütterlich an die Seite Israels stellen, hat kein Recht, sich am Diskurs zu beteiligen.

Von diesem deutschen Herrschaftsmechanismus sind vor allem Palästinenser*innen betroffen, aber auch Jüdinnen und Juden, deren Meinung vom zionistischen Mainstream jüdischer Organisationen und Gemeinden in Deutschland abweicht oder die sich kritisch dazu äußern. Deborah Feldman schreibt im Guardian von einer „unsichtbaren Mehrheit jüdischer Menschen, die nicht zu Gemeinden/Gemeinschaften gehören die vom deutschen Staat finanziert werden, und die nicht konstant die einzigartige Wichtigkeit der bedingungslosen Treue zum Staat Israel betonen“ [5]. Jüdische Stimmen, die nicht zu den mächtigen offiziellen Institutionen und Gemeinschaften zugehörig seien, würden „oft zum Schweigen gebracht oder diskreditiert“.

Wir erleben das am Beispiel der Jüdischen Stimme für Gerechten Frieden in Nahost, die vom Zentralrat der Juden in Deutschland diskreditiert wird, was wiederum von Institutionen wie dem Bennohaus unhinterfragt übernommen wird. Wir erlebten das an der Ablehnung der Professur der renommierten jüdisch-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser von Seiten der Universität Köln, an der zeitweisen Aberkennung des Hannah-Arendt-Preises für die Publizistin Masha Gessen, an der Einfrierung des Bankkontos der Jüdischen Stimme im Vorfeld des Palästina-Kongresses und an der zum Teil brutalen Verhaftung bzw. Ingewahrsamnahme zahlreicher jüdischer und israelischer Aktivist*innen vor allem in Berlin bei den Antikriegsprotesten der letzten Monate [6]. Die deutsch-israelische Aktivistin Iris Hefets, die mehrfach verhaftet wurde, meint, dass jüdische Protestierende das Narrativ stören, dass die Juden von den Deutschen vor den Muslimen beschützt würden. Die Bilder von jüdischen Demonstrierenden neben muslimischen Demonstrierenden zeigten, dass das nicht nötig sei [7]. Wir erleben die Diskreditierung abweichender Stimmen aber auch in Münster, wo der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde die jüdische Programmleiterin des Cinema in einem Leserbrief vom 6. März 2024 in den Westfälischen Nachrichten in einem Atemzug mit Björn Höcke nannte und damit auf übelste Weise diffamierte.

Bei der Verleumdung von Menschen und Organisationen wird dabei immer wieder mit Schlagworten gearbeitet, statt Inhalte zu zitieren und Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst eine Meinung zu bilden. Zu den immer wiederkehrenden Schlagwörtern gehört „Antisemitismus“, „Israel-Hass“, „Shoah-Relativierung“, „Hamas-Nähe“ oder „Leugnung des Existenzrechts Israels“. Dabei reicht es, einfach diese Schlagworte zu nennen, ohne Beweise zu liefern oder den konkreten Sachverhalt aufzuführen. Deutlich wird das etwa an der Stellungnahme des Bennohauses, das wahrscheinlich die „Kritik“ an den Veranstalter*innen einfach aus dritter Hand übernahm und kritische Aussagen gar nicht zu Gesicht bekam. Die Berichterstattung der Westfälischen Nachrichten liefert aber einen seltenen Einblick in die Art und Weise, wie der Stempel „antisemitisch“ aufgedrückt wird. Im Artikel von Nils Dietrich vom 22. April 2024 [8] heißt es:
»Tatsächlich steht die Gruppierung „Palästina Antikolonial“, die regelmäßig Mahnwachen und Demonstrationen gegen den Krieg im Nahen Osten organisiert, immer wieder in der Kritik. So wird der Staat Israel unter anderem als Kolonialmacht dargestellt. Diese Delegitimierung ist ein Kriterium für sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“.«
Dieser kurze Absatz reicht aus, um das Problem des deutschen Antisemitismus-Diskurses aufzuzeigen: In einem Diskurs, der auf Fakten gestützt wäre, würde eine solche Behauptung nicht unwidersprochen im Raum stehen gelassen. In einem Diskurs, der von allen abweichenden Stimmen gesäubert wurde, ist das sehr wohl möglich. Der Prozess des „Reinhaltens“ des deutschen Diskurses zu Antisemitismus, zu jüdischem Leben und jüdischen Realitäten in Deutschland von unliebsamen und dissidenten Stimmen und Geschichten, das ist es, was wir in diesen Tagen alle miterleben können. Die Absage des Bennohauses reiht sich genau in diesen Prozess ein. Wir können unsere Kritik an diesem Prozess noch auf unseren Kanälen teilen, aber andere Accounts wurden schon gesperrt oder geshadow-banned. Wir können unsere Veranstaltung noch im ITP durchführen (mit 25 statt 140 Plätzen), aber andere Räume wurden uns schon genommen oder gar nicht erst gewährt.

Der politische Kampf der herrschenden Institutionen gegen alle Stimmen, die die Verbrechen des israelischen Staates und die deutsche Komplizenschaft aufzeigen, wird immer repressiver geführt. Aber gleichzeitig werden die Stimmen, die so lange unterdrückt wurden, palästinensische, jüdische, und solidarische Stimmen aus der Vielfalt der Gesellschaft, immer mehr. Wir bleiben dabei, diesen Stimmen einen Raum zu geben, und können nur hoffen, dass wir uns am Ende gegen die Repression und gegen die Verfechter des Status Quo durchsetzen.

Quellenverzeichnis
  1. https://www.middleeasteye.net/news/israel-ihra-definition-antisemitism-groups-call-un-oppose
  2. https://media.euobserver.com/9e86df02ddf67c6046d190b65e4380df.pdf
  3. https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/dec/13/antisemitism-executive-order-trump-chilling-effect
  4. https://www.theguardian.com/news/2023/apr/24/un-ihra-antisemitism-definition-israel-criticism
  5. https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/nov/13/germany-jewish-criticise-israel-tv-debate
  6. nur ein Beispiel: https://www.instagram.com/reel/C5wOA0ksQey/
  7. https://www.aljazeera.com/news/2024/4/1/we-jews-are-just-arrested-palestinians-are-beaten-german-protesters
  8. https://www.wn.de/muenster/palaestina-antikolonial-absage-bennohaus-anfeindungen-2961091

Letzte Änderung: 28. April 2024